{"id":142,"date":"2016-04-27T18:04:19","date_gmt":"2016-04-27T16:04:19","guid":{"rendered":"http:\/\/buergerliste-schierling.de\/3\/2016\/04\/27\/erinnerung-an-die-reaktorkatastrophe-von-tschernobyl-und-das-leben-von-a-sendtner\/"},"modified":"2021-01-26T21:40:09","modified_gmt":"2021-01-26T20:40:09","slug":"erinnerung-an-die-reaktorkatastrophe-von-tschernobyl-und-das-leben-von-a-sendtner","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/buergerliste-schierling.de\/2016\/04\/27\/erinnerung-an-die-reaktorkatastrophe-von-tschernobyl-und-das-leben-von-a-sendtner\/","title":{"rendered":"Erinnerung an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und das Leben von A. Sendtner"},"content":{"rendered":"\n
Zur Erinnerung an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 30 Jahren und an Annemarie Sendtner, die ein Leben lang die Zumutungen der ganz gew\u00f6hnlichen niederbayerischen Borniertheit ertrug und ihnen keinen Millimeter nachgab.<\/strong><\/p>\n\n\n\n Von Florian Sendtner<\/em><\/p>\n\n\n\n\n\n\n\n Vielleicht hat es meine Mutter gar nicht wirklich gegeben. Das wird mir jetzt, drei Wochen nach ihrem Tod, so nach und nach bewusst. Gut, man k\u00f6nnte einwenden: Ein paar Tausend Leute haben sie gekannt. Als Apothekerin von Schierling, einem etwas zu gro\u00df geratenen Dorf irgendwo in Bayern. Die nun mit 88 gestorben ist, nachdem sie ihr Leben lang brav ihre Pflicht erf\u00fcllt hat, aus, Amen. Ja, diese Frau hat es schon gegeben, das erlauben sie netterweise. Aber die Frau, an die ich mich zu erinnern glaube, die mir sogar sehr lebhaft vor Augen steht (und deren ewig junge Stimme ich noch mit 90 im Ohr haben werde), die scheint es nicht gegeben zu haben. Da muss ich mich irgendwie get\u00e4uscht haben.<\/p>\n\n\n\n Es geht damit los, dass diese Frau eine Meinung hatte. Ich sage gar nicht: eine spezielle Meinung, sondern: \u00fcberhaupt eine. Man hat als Frau in Schierling keine Meinung. Au\u00dfer sie deckt sich mit der herrschenden. Das stellt sich heraus, als ich den Nachruf auf meine Mutter in der \u201eLaberzeitung\u201c lese. Die \u201eLaberzeitung\u201c ist die Lokalausgabe des \u201eStraubinger Tagblatts\u201c, benannt nach dem Fl\u00fcsschen, das durch Schierling flie\u00dft, der Gro\u00dfen Laber. Der naheliegende Kalauer von wegen \u201elabern\u201c ist sogar etymologisch begr\u00fcndet: altirisch \u201elabar\u201c bedeutet \u201eberedt\u201c, und wenn man dann noch auf keltisch \u201elabara\u201c = \u201eschwatzend, rauschend\u201c zur\u00fcckgeht, hat man die gemeinsame Bedeutung. Der Nachruf auf meine Mutter in der \u201eLaberzeitung\u201c ist allerdings nicht sehr beredt oder rauschend, er ist eher kurzangebunden und liest sich irgendwie abgehackt und abgeschnitten. Na ja, es fehlt ja auch die H\u00e4lfte. Ich wei\u00df das, ich hab ihn schlie\u00dflich geschrieben.<\/p>\n\n\n\n Das hier zum Beispiel fehlt: \u201eEin einschneidendes Erlebnis war f\u00fcr sie die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Ende April 1986, die sie politisch umdenken lie\u00df. Der Atomausstieg der Merkel-Regierung 2011 kam ihrer Meinung nach 25 Jahre zu sp\u00e4t.\u201c Eine Frau, die schon vor 30 Jahren gegen Atomkraft war? Sie haben sie damals schon bel\u00e4chelt f\u00fcr diese Spinnerei, nat\u00fcrlich wird das auch anl\u00e4sslich ihres Todes sauber untern Tisch gekehrt. Man muss dazu wissen: Meine Eltern waren damals, 1986, die einzigen im Umkreis von 30 Kilometern, die einen Geigerz\u00e4hler hatten. Was sich schnell herumsprach. Die Leute kamen scharenweise in die Apotheke, brachten Salat und Tomaten aus dem Garten mit und wollten wissen, ob die guten Sachen genie\u00dfbar waren oder nicht. Der Staat war ja keine so gro\u00dfe Hilfe. Da war nur der Innenminister Zimmermann, der aus dem Fernseher heraus beteuerte, dass \u201ezu keiner Zeit keinerlei Gefahr\u201c bestehe. Der Geigerz\u00e4hler sagte was anderes, der kriegte sich oft gar nicht mehr ein.<\/p>\n\n\n\n Die Apotheke meiner Eltern verwandelte sich im Fr\u00fchsommer 1986 in eine halbamtliche Ersatzpr\u00fcfstelle f\u00fcr radioaktive Messungen, und meine Mutter wusste nicht, wor\u00fcber sie mehr verzweifeln sollte: \u00fcber die Katastrophe selbst, \u00fcber die v\u00f6llig unvorbereiteten, beschwichtigenden Beh\u00f6rden, oder \u00fcber die naive Bev\u00f6lkerung. Die wenigsten waren schlie\u00dflich schon mal in einer Physikvorlesung gesessen. Die fragten ernsthaft: \u201eKann man die verstrahlte Milch trinken, wenn man sie vorher abkocht?\u201c<\/p>\n\n\n\n Waren die Leute meinen Eltern nicht dankbar f\u00fcr die kostenlose Strahlenberatung in Tschernobyl-Zeiten? Doch, sehr. Nur bei der n\u00e4chsten Gelegenheit w\u00e4hlten sie wieder tapfer CSU. Und meine Mutter verzweifelte noch mehr. Die Schierlinger Kolping-Familie brachte es fertig, in den Tagen nach Tschernobyl eine \u201eInformationsfahrt\u201c zum Atomkraftwerk Ohu bei Landshut anzubieten (Luftlinie 25 Kilometer, oft sieht man von Schierling aus die Rauchs\u00e4ule des K\u00fchlturms von Ohu). Ich fuhr eiskalt mit. Feindaufkl\u00e4rung. Da wurde bei Gratisgetr\u00e4nken ein Propagandafilmchen vorgef\u00fchrt, in dem Carolin Reiber als Hausfrauendummchen den schlauen Professor im wei\u00dfen Kittel fragt, ob diese unsichtbaren Atome auch wirklich nicht gef\u00e4hrlich sind. Und, \u00dcberraschung! \u2013 der Professor kann sie beruhigen: Nein, nein, da k\u00f6nnen Sie ganz unbesorgt sein! \u2013 Die Schierlinger Kolping-Familie war\u2018s damit zufrieden. Und meine Mutter verzweifelte noch mehr.<\/p>\n\n\n\n Es muss dieses dreckige Desinformationsfilmchen gewesen sein, f\u00fcr das Carolin Reiber 1987 den Publikums-Bambi erhielt, 1990 den Sonder-Bambi, 1998 den Bayerischen Verdienstorden und 2006 ungelogen die Bayerische Staatsmedaille f\u00fcr Verdienste um Umwelt und Gesundheit. Meine Mutter dagegen wurde von den Ma\u00dfgeblichen in Schierling seit Tschernobyl endg\u00fcltig geschnitten. Sie existierte praktisch nicht. Beim Thema Atomkraft galt das ganz besonders, was auch in Bezug auf ihr gesamtes Leben durchgehend galt: Immer waren da andere, die den breiteren Arsch, die gr\u00f6\u00dfere Klappe und vor allem die richtigere Meinung hatten. Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, dass sie anl\u00e4sslich ihres Todes zur Kenntnis genommen, geschweige denn gew\u00fcrdigt werden sollte!<\/p>\n\n\n\n Das klingt jetzt vielleicht verbittert, aber das war meine Mutter nie. Sie fl\u00fcchtete sich in Satire und Sarkasmus, entdeckte Dieter Hildebrandt, Gerhard Polt und die Bierm\u00f6slblosn. Deren Erw\u00e4hnung lie\u00df die \u201eLaberzeitung\u201c immerhin durchgehen. Doch schon der n\u00e4chste Satz war wieder zu viel: \u201eF\u00fcr die M\u00e4chtigen hatte sie nur Spott und Verachtung \u00fcbrig. Ihr Herz schlug f\u00fcr die Ohnm\u00e4chtigen und Kreativen.\u201c Aber das h\u00e4tte ich nat\u00fcrlich wissen k\u00f6nnen, dass solche S\u00e4tze laut Redaktionsstatut untersagt sind.<\/p>\n\n\n\n Dass meine Mutter, 1927 in M\u00fcnchen geboren, ihre gesamte Schulzeit, von ihrem sechsten bis zu ihrem 18. Lebensjahr, unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verbrachte, das war wieder erlaubt. Das nachfolgende kleine Beispiel dagegen nicht: \u201eSo wurde sie zum Beispiel als M\u00e4dchen von einem Lehrer gezwungen, den Schulgang auf- und abzumarschieren und dabei den Hitler-Gru\u00df auszuf\u00fchren, den sie zuvor nicht vorschriftsm\u00e4\u00dfig ausgef\u00fchrt hatte.\u201c Dass sie den Jesuiten Alfred Delp ganz gut kannte, der 1945 hingerichtet wurde, und dass das Entsetzen \u00fcber diesen Justizmord sie nie loslie\u00df, das ging grad noch durch. Dass das f\u00fcr sie Konsequenzen hatte, nicht: \u201eIhre Fassungslosigkeit und ihr Abscheu gegen\u00fcber den Neonazis wie dem Nationalsozialistischen Untergrund kannten keine Grenzen.\u201c<\/p>\n\n\n\n Eine Frau, die ernsthaft was gegen Neonazis gehabt hat? Wie komisch. Schon fast peinlich! Sowas hat doch in der Zeitung nichts zu suchen! Wenn sie im Obst- und Gartenbauverein oder in der Frauenunion stellvertretende Kassiererin gewesen w\u00e4r, das w\u00e4r erw\u00e4hnenswert gewesen! Aber doch nicht so ein Schmarrn!<\/p>\n\n\n\n Ganz zu schweigen von meinem Schlusssatz. Zumindest verschwieg ihn die \u201eLaberzeitung\u201c: \u201eAm Tag ihres Todes machte Europa die Balkanroute dicht und verwehrte den Fl\u00fcchtlingen die Einreise. Was die meisten Politiker als gro\u00dfen Erfolg feierten, h\u00e4tte Annemarie Sendtner als Schande f\u00fcr Europa betrachtet.\u201c<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":" Zur Erinnerung an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 30 Jahren und an Annemarie Sendtner, die ein Leben lang die Zumutungen der ganz gew\u00f6hnlichen niederbayerischen Borniertheit ertrug und ihnen keinen Millimeter nachgab. Von Florian Sendtner<\/p>\n","protected":false},"author":6,"featured_media":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[32],"tags":[],"yoast_head":"\n