Schule für alle
TAZ vom 11. März 2009
Wohin gehen Bayerns Schüler
Schule für alle – in Bayern
Der Freistaat war die Bastion der ständischen Schule. Nun bilden sich Initiativen, und Gesamtschulen werden gefeiert wie Visionen. FDP: Wir fusionieren Haupt- und Realschulen zu etwas Neuem. VON BERNHARD HÜBNER
Die Trennung zwischen Gymnasium, Haupt- und Realschule ist nirgendwo in Deutschland so ein Dogma wie in Bayern. Foto: dpa
Früher hätten sie in Bayern einen wie Wilfried Kretschmer erst ausgelacht und dann aus dem Saal gejagt. Doch an diesem Abend erzählt der Schulleiter aus Hildesheim auf einer Bühne in Kulturhaus von München Milbertshofen in aller Ruhe. An seiner integrierten Gesamtschule lernen die Kinder aller Leistungsstufen zusammen. Kretschmer wird gefeiert wie ein Visionär. Hinten zeigt der Projektor seine Robert-Bosch-Gesamtschule. Vorne steht auf Einladung des Vereins „Eine Schule für alle in Bayern“. Wilfried Kretschmer zuckt mit den Schultern. „Die integrierte Gesamtschule ist ein System, das es eigentlich überall gibt.“ Aus der letzten Reihe schreit ein Mann: „Außer in Bayern.“
Bisher nur Häme
BAYERNS REALSCHULEN KÄMPFEN VERBISSEN UM GEGLIEDERTE SCHULE
Für Bayerns Realschulen hat das letzte Gefecht begonnen. Am Sonntag spuckten sie Gift und Galle. „Wortbrüche, willkürliche und kurzfristige Änderungen, diffuse Zeitvorgaben und unklare Inhalte“, skandalisierte der oberste Realschulpauker, Anton Huber. Später setzte Elternsprecherin Ingrid Ritt aus Straubing mit ganz ähnlichen Worten nach – Bayerns Mittelschullobby ist stets allzu perfekt abgestimmt. Sie empörten sich, dass bei der Kooperation von Haupt- und Realschule, die es auch in Bayern geben wird, die Lehrer in beiden sich auflösenden Schulformen unterrichten werden. Logo! Was denn sonst? „Die Vermischung der Schularten bildet eindeutig die Grundlage für die Auflösung der Schularten in Bayern“, stammelte Huber. Ein Blick auf die jüngsten Pisa-Tabellen zeigt, wovor er Angst hat – dass die Hauptschüler kommen. An den Hauptschulen finden sich in Bayern 39 Prozent Risikoschüler, in den Realschulen 2,1 Prozent. Die Realschule ist so etwas wie das Gymnasium des Mittelstands. Werden die Hauptschulen aufgelöst, was absehbar ist, wird sie eher eine Schule für alle. „Was folgt als Nächstes?“, fragte Ritt prompt. „Der willkürliche Austausch von Schülern zwischen den Schularten?“ TAZ
für Gesamtschulen
Tatsächlich ist die Trennung zwischen Gymnasium, Haupt- und Realschule nirgendwo in Deutschland so ein Dogma wie in Bayern. Auf die unerbittliche Auslese, den Notendruck schon in der Grundschule, das besonders elitäre Gymnasium, war man hier jahrelang stolz. Im CSU-regierten Bayern blickte man mit Häme auf SPD-Länder, die mit Gesamtschulen experimentierten. Die Pisa-Studien, bei denen Bayern jahrelang ganz vorne lag, suggerierten den weiß-blauen Fans des dreigliedrigen Schulsystems: Wir sind Helden! Nur der Verein der Ingenieure wagte sich immer wieder mal anzumerken, dass Bayern für ein Hightech-Land viel zu wenig Abiturienten produziere. Mittlerweile aber heißt der Pisa-Tabellenführer Sachsen. Und dort werden die Kinder nur in zwei Schularten aufgeteilt. In Bayern laufen derweil den wenig attraktiven Hauptschulen die Schüler davon. In den vergangenen Jahren mussten im Freistaat 586 Hauptschulen schließen – aus Schülermangel. Bayerns dreigliedriges System, es fällt aus der Zeit.
„Es sind erste Risse in der Totalverweigerung zu erkennen“, findet Andreas Stüwe. Er ist Lehrer an einer Förderschule in München und Vorsitzender eines Vereins, der auch in Bayern das Undenkbare denkt. Mit „Eine Schule für alle in Bayern e. V.“ kämpft Stüwe für die Gemeinschaftsschule. Die Kinder sollen zehn Jahre lang gemeinsam lernen – bis zur Oberstufe. Den Stress vor dem Übertritt soll es nicht mehr geben, auch keine Angst vorm Durchfallen, das ist die Vision. In wenigen Monaten sind schon knapp hundert Lehrer und Eltern der Reformbewegung von unten beigetreten.
Derweil versucht sich ganz oben die bayerische Regierung an Neuerungen, die vor dem Ende der absoluten CSU-Mehrheit bei der Landtagswahl noch wenig Chancen gehabt hätten. Vergangene Woche beschloss die von CSU und FDP geführte Landesregierung ein neues Übertrittsverfahren von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen. In Zukunft werde es weniger Druck geben und mehr Förderung, verspricht der neue Bildungsminister Ludwig Spaenle (CSU).
Vom kommenden Schuljahr an gibt es auch im so entscheidenden vierten Schuljahr prüfungsfreie Lernphasen und eine Stunde Förderunterricht in der Woche. Auch Kinder, die an den anspruchsvollen bayerischen Mindestdurchschnittsnoten scheitern – fürs Gymnasium braucht es eine 2,33, für die Realschule eine 2,66 – bekommen, wenn es die Eltern wünschen, die Chance, der Hauptschule zu entfliehen. Wer in Deutsch und Mathe mindestens eine Vier schafft, darf zumindest probeweise für ein Jahr aufs Gymnasium oder die Realschule. Das werde „die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem weiter erhöhen“, jubelt Spaenle. Die Opposition sieht das entsprechend anders. Am Druck, der auf den Kindern laste, ändere sich praktisch nichts, bemängeln Grüne und SPD und empfehlen, was die CSU in Bayern noch strikt ablehnt, während es die CDU in Hamburg schon umsetzt: eine sechsstufige Grundschule.
Auf dem Informationsabend des Vereins „Eine Schule für alle“ in Milbertshofen würde so ein Vorschlag niemanden begeistern. Er wäre einfach zu mutlos. Auf der Bühne steht der Vereinsvorsitzende Andreas Stüwe, lächelt freundlich und meint: „Unser Schulsystem baut auf überkommenen gesellschaftlichen Strukturen und einem veralteten Begabungsbegriff auf.“
„Doof geboren ist keiner. Kinder sind neugierig“
Wilfried Kretschmer, der Gesamtschulleiter aus Hildesheim, findet: „Wir brauchen eigentlich nur die Natur zulassen, denn die Menschen sind von Natur aus neugierig.“ Ein Kinderchor singt das renitente 70er-Jahre-Lied „Doof geboren ist keiner“. Hans Well von den Biermösl Blosn sagt: „Des ist nimmer wie zu meiner Zeit“, und erzählt von seinem Vater, der sich als Dorfschullehrer nicht befördern ließ, weil es ihm so viel Freude machte, mit den Kindern zu singen.
Sabine Czerny ist eigentlich auch eine begeisterte Grundschullehrerin. Doch weil ihre Schüler zu gute Noten schrieben, bekam sie im vergangenen Sommer Ärger und wurde versetzt (die taz berichtete). Als sie an diesem Abend auf der Bühne das Mikrofon in die Hand nimmt, mag sie zu ihrem eigenen Fall nichts sagen. Aber ihr Urteil über die Situation an den bayerischen Grundschulen ist wenig optimistisch. „Proben und Notengebung haben einen Raum eingenommen, der alles erstickt.“ Der Verein „Eine Schule für alle in Bayern“ möchte daran etwas ändern – jenseits aller parteipolitischen Grabenkämpfe, wie der Vorsitzende Andreas Stüwe beteuert.
Doch auf den für Politiker reservierten Plätzen vor der Bühne sitzen an diesem Abend nur je eine Landtagsabgeordnete von SPD und Grünen. Von der Regierungsfraktion ist keiner gekommen. „Man kann noch nicht sagen, dass sich der Geist geändert hat“, meint Stüwe. „Aber immerhin ist die CSU mittlerweile bereit, Gespräche zuzulassen.“
So ist es weniger der politische Wille, sondern die blanke Not, die den Weg ebnet für einen großen Schritt in Richtung Gemeinschaftsschule. In Landstrichen, wo aus Schülermangel keine Versorgung mit Hauptschulen mehr möglich ist, sollen nach Plänen der Regierungskoalition Haupt- und Realschulen fusioniert werden. Es werden neue Schultypen entstehen, verkündete die FDP am Montag. Bislang sind solche Reformpläne gescheitert.