Interview in der TAZ
Bayern und Baden-Württemberg sind die selbsterklärten Klassenbesten in Deutschland. Nirgends ist das Leben so lebenswert wie in Süddeutschland. Das Paradies hat einen Namen: Bayern! (aus badischer Sicht natürlich: Baden-Württemberg!). Selbst ehemalige Lichtgestalten und nun unliebsam gewordene Ministerpräsidenten werden gemeinsam in Brüssel entsorgt. In der PISA-Studie ist Bayern immer das beste Bundesland (gewesen). Wäre da nicht Sachsen. Bayern und BWB bilden die Felsen in den anbrandenden Erneuerungen der Schulsysteme. Was für den Rest der Welt gut genug ist, taugt nichts für Bayern. Manchmal hat man/frau das Gefühl die Konfessionsschulen mit der Geschlechtertrennung werden wieder eingeführt. In jeder neuen Legislaturperiode kommt eine vermeintliche neue Reform, was nichts anderes ist als alter Wein in neuen Schläuchen. Diesmal heißt die Luftblase „Die Bayerische Mittelschule“. Davon demnächst an anderer Stelle mehr.
Ich möchte euch folgendes Interview nicht vorenthalten, um den Eindruck zu entkräften, nur in Bayern gäbe es merkwürdige Kaberettisten:
Im Original hier in der TAZ zu lesen.
Interview Kultusminister Helmut Rau
„Die UN kann uns nichts vorschreiben“
Nicht jeder taugt fürs Abitur, sagt Baden-Württembergs Kultusminister Helmut Rau. Er ist dagegen, Sonder- und Hauptschulen aufzulösen.
In Baden-Württemberg wird schon in jungen Jahren entschieden, ob ein Schüler später einmal die Chance bekommt, zum Abitur zugelassen zu werden.
taz: Herr Rau, wieso verstellen Sie sich eigentlich?
Helmut Rau: Ich glaube, es gibt keinen Authentischeren als mich.
Sie sind intelligent, schlagfertig – aber als Kultusminister verteidigen Sie ein Konzept von Schule, das 150 Jahre alt ist.
Wir haben in Baden-Württemberg eine sehr gute zeitgemäße Entwicklung des Schulwesens, die hohe Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit gewährleistet und Schulen viel Raum für eigenständige Schulentwicklung lässt.
Helmut Rau, 59, zählt zu den härtesten Befürwortern einer gegliederten Schule – und zu den witzigsten. „Der Kämpfertyp mit dem Schnauzbart kann kräftig austeilen“, schrieb die Schwäbische Zeitung über den Präsidenten des Bundes Deutscher Blasmusikverbände, der auch gerne Waschbrett spielt. Rau engagierte sich früh für verfolgte Schriftsteller in der DDR, so zum Beispiel für Erich Loest. Rau ist verheiratet und hat zwei Söhne.
Handwerkskammertag, Hauptschulrektoren und viele Bürgermeister sind da ganz anderer Meinung. Die sagen: Die dreigliedrige Schule ist nicht mehr zeitgemäß.
Ich laufe nicht irgendeiner Kritik nach, sondern habe gute Argumente für ein Konzept, das bei der Durchlässigkeit besonders erfolgreich ist. 50 Prozent eines Jahrgangs in unseren Schulen erlangen die Studienberechtigung.
Aber Sie haben in den Hauptschulen 40 Prozent Risikoschüler. Finden Sie es akzeptabel, dass vier von zehn Hauptschülern auf dem Niveau von Grundschülern lesen?
Das ist sicher eine besondere Herausforderung. Wir helfen den Risikoschülern aber nicht, indem wir einfach eine Schulart abschaffen.
Das stimmt nicht. Schauen Sie sich in anderen Bundesländern um, die fusionierte Haupt- und Realschulen haben. In diesen integrierten Schularten gibt es deutlich weniger Risikoschüler.
Wir haben Hauptschulen, die nach wie vor den Anspruch erheben, dass die Schülerinnen und Schüler weiterführendere Bildungsabschlüsse erwerben, was sie in der Tat auch tun. 45 Prozent unserer Hauptschüler machen eine mittlere Reife.
Das heißt, die sind an der Hauptschule falsch, oder?
Nein, diese Form der Sortierung nehme ich nicht vor. Ich glaube, dass zu einer bestimmten Zeit im Laufe einer Bildungsbiografie Entscheidungen über den nächsten Schritt getroffen werden müssen. Und keine Station darf eine Sackgasse sein. Nur 50 Prozent der Studienberechtigungen werden an allgemeinbildenden Gymnasien erworben, die andere Hälfte gelangt auf anderen Wegen dazu.
Spräche das nicht dafür, die Schüler länger gemeinsam zu fördern, als sie nach der vierten Klasse erst einmal Umwege nehmen zu lassen?
Die Frage, ob jemand nach der vierten oder sechsten Klasse auf eine weiterführende Schule geht, führt in die Irre. Mit zwölf Jahren, wenn die Kinder am Anfang der Pubertät stehen, ist das ein denkbar schlechter Zeitpunkt für eine Umstellung. Die Perspektive für das längere gemeinsame Lernen sehe ich in unseren Bildungshäusern für Drei- bis Zehnjährige.
Nehmen wir einmal an, ich bin ein 12-jähriger Schüler in Ihrem Schulsystem. Erklären Sie mir, warum ich mit meinen Freunden zusammen Fußball spielen darf, aber nicht lernen.
Das Fußballspiel ist Freizeit und Vergnügen, da geht es nicht darum, dass du bestimmte Lebenschancen verwirklichst. In der Schule geht es darum, dich nach allen Kräften zu unterstüzten, damit du später ein selbstbestimmtes Leben führen kannst. Und die Wege, die wir anbieten, sind offen und vielfältig.
Mit einem reduzierten Stundenplan in der Hauptschule.
Wir haben keine reduzierten Stundenpläne, sondern an den Hauptschulen sogar zehn Poolstunden für jeden Zug eingesetzt. Das haben die anderen Schularten gar nicht.
Trotzdem laufen Schüler und Eltern in Scharen Ihrer Superschule davon.
Die Eltern wollen eine Schule, die auf direktem Weg zur mittleren Reife führt. Deshalb entwickeln wir die Hauptschule zur Werkrealschule weiter.
Wozu braucht der Technologie-Riese Baden-Württemberg eine Schulform, die praktische Fähigkeiten stärkt?
Es ist wichtig, beides zu stärken. Wir haben Förderkonzepte, die Deutsch- und Mathekenntnisse ausbauen und die Ausbildungsreife der Jugendlichen stärken, indem wir möglichst viele Elemente beruflicher Qualifaktion anbieten.
Die meisten Berufe erfordern aber eine höhere Qualifikation.
Nicht alle Schüler sind in der Lage, die mittlere Reife oder das Abitur zu machen. Jeder Abschluss hat aber seinen Wert.
Es gibt viele Eltern, die wollen mehr integrative Schulen, die möglicherweise direkt zum Abitur führen. Es gibt auch Bürgermeister, die integrative Schulen einrichten wollen. Ihr Ministerium aber genehmigt nicht. Warum?
Es kann nicht jeder sein eigenes Schulsystem erfinden. Ich würde damit den Wert des bestehenden Systems aushöhlen.
Sie haben Angst, dass integrative Schulen erfolgreich sein könnte.
Nein, ich habe keine Angst davor, aber ich könnte keine Übergänge gewährleisten und keine Anschlüsse. Ich fand es sehr aufschlussreich, dass für unser ausgeschriebenes Modell zur Kooperation zwischen Haupt- und Realschulen sehr wenige Anträge eingegangen sind. Bei uns macht die Gemeinschaftsschule keinen Sinn, weil das differenzierte Schulwesen großen Rückhalt in der Bevölkerung hat und sehr gute Ergebnisse bringt. Deshalb bin ich nicht in der Not, parallel ein Einheitsschulsystem aufzubauen.
Sie schließen lieber Schulstandorte und fahren die Schüler mit Bussen kilometerweit durch die Gegend.
Wir lösen die erfolgreichen Bildungskonzepte nicht auf, damit man in den Dörfern möglichst kleine, schnuckelige Schulen bewahrt. Im Gegenteil. Wir haben unser System weiterentwickelt und mit der Werkrealschule eine moderne Schulart geschaffen, die zukunftsfähig ist.
Warum gehen in den Kommunen so viele Schulen ein?
Weil die Schülerzahlen zurückgehen, gerade auf dem Land.
Über die Hälfte der 1.200 Hauptschulen sind einzügig. Werden die geschlossen?
Da wage ich keine Prognose. Aber es ist klar, dass es in diesem Prozess des Umbruchs zur Schließung von Schulstandorten kommen wird. Wir können nicht mehr in jeder Kommune eine weiterführende Schule haben. Das ist heute schon nicht so.
In Emmendingen gelingt es einer Waldorfschule, Behinderte in den Unterricht zu integrieren. Ihre Verwaltung hat versucht, ihr den Integrationsstatus wegzunehmen. Warum?
Das war ein Schulversuch. Für diese Schule sind außerordentliche Rahmenbedingungen geschaffen worden. Die Schule darf selbstverständlich weiterhin behinderte Kinder aufnehmen, aber zu geänderten Bedingungen. Die Schule hat von den Modellbedingungen sehr profitiert.
Ist doch klar, dass es mehr Geld kostet, behinderte Kinder in den Unterricht zu integrieren?
Wir haben eine exzellente sonderpädagogische Förderung, die materiell unglaublich stark ausgestattet ist. Jetzt kommt es darauf an, diese sonderpädagogische Förderkompetenz an allgemeine Schulen zu transferieren.
Sie haben aus dem Fall gelernt und die Sonderschulpflicht aufgehoben. Was heißt das konkret?
In Baden-Württemberg werden mittlerweile 29 Prozent der behinderten Kinder an allgemeinen Schulen unterrichtet. Diese Quote wollen wir weiter ausbauen. Daran arbeitet ein Expertenrat, den ich neu berufen habe.
Könnte ich also mein Kind in die Schule meiner Wahl schicken, wenn es behindert ist?
Nein. Ein runder Tisch, an dem Lehrer, Experten und Sie selbst als Eltern sitzen, erarbeitet Empfehlungen. Die Eltern haben dann das Entscheidungsrecht.
Sie sind sich im Klaren, dass das ein Verstoß gegen die Würde des Menschen ist.
Warum?
Es gibt ein Recht auf Bildung in der UN-Konvention – die auch Sie unterzeichnet haben.
Das allgemeine Recht auf Bildung wird dadurch erfüllt, dass ich Kindern die bestmögliche Förderung ermögliche.
Die UN-Konvention sieht aber vor, dass jedes Kind das Recht auf eine allgemeinbildende Schule hat – und keine Schule zugewiesen bekommt.
Die UN kann uns keine Vorschriften über die Umsetzung der Grundsätze machen. Dafür sind wir verantwortlich.
Warum bevormunden Sie andere Menschen, indem Sie deren Kinder ohne Einverständnis fremdbegutachten lassen – und in Sonderschulen stecken?
Warum nennen Sie Unterstützung und Entscheidungshilfen Bevormundung? Sie sind auf dem Holzweg. Sie als Elternteil können entscheiden, wir geben Lernortempfehlungen.
Nein, Sie sollen ein inklusives Schulsystem schaffen!
Es ist ein inklusives Schulsystem.
Sie müssen also nicht die Rahmenbedingungen an allen Regelschulen so ändern, dass Inklusion überall möglich ist?
Mein Ziel ist, dass jedes behinderte Kind eine möglichst gute schulische Laufbahn durchmachen kann und wir in allen Bereichen die Möglichkeit haben, bestimmte Lernorte in allgemeinen Schulen und sonderpädagogischen Förderzentren anzubieten.
Bis 2015 will die Bundesregierung 10 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt in Bildung und Forschung investieren. Ist das zu schaffen?
Um den Anteil der Bildungsausgaben zu steigern, müssen sich Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam anstrengen. Wir haben in Baden-Württemberg eine Steigerung der Bildungsausgaben um 530 Millionen Euro. Das ist nicht schlecht.
Bedauern Sie, dass es Bund und Ländern verboten ist, im Schulbereich zusammenzuarbeiten?
Ich weiß nicht, was das Kooperationsverbot soll. Ich habe kein Problem damit zu kooperieren. Ein Kultusminister muss jedes Geld nehmen, das er kriegen kann.
INTERVIEW: ANNA