Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt

Erinnerungen an eine aufrechte Persönlichkeit von Rudi Eisenhut

Erstmals nahm ich Willy Brandt als 8-jähriger Schüler am 13. August 1961 wahr. Ich war in den Sommerferien bei meinem großen Bruder in Leverkusen, wo die Bayern damals bei Bayer Arbeit fanden. Dieses Datum ist in meiner Generation tief verwurzelt: der Tag des Mauerbaus. Ich konnte damals die Aufregung der Erwachsenen, die den Krieg ja noch bewusst erlebten, nicht ganz verstehen, aber wir Kinder spürten die Trauer, die Wut und auch die Angst der Älteren. Willy war damals Regierender Bürgermeister der geknechteten und nun geteilten Hautstadt. Er unterbrach den damaligen Bundeswahlkampf und versuchte zu retten was zu retten möglich war. Kanzler Adenauer kam erst nach einer Woche nach Berlin, wofür die CDU bei den Wahlen bestraft wurde und Brandt 4,4 % hinzugewann. Doch es reichte für eine Regierung noch nicht. Bereits im Wahlkampf diffamierten Adenauer in Regensburg und Franz-Josef Strauß bei jeder Gelegenheit „Brand alias Fram“ als Vaterlandsverräter, weil dieser von den Nazis geflohen war und in Norwegen für die verbotene SPD im Untergrund kämpfte. Sogar seine uneheliche Geburt wurde ihm von der CDU/CSU vorgeworfen. Allen voran hetzten die Katholischen Blätter. Der sehr sensible Brandt litt enorm unter diesen Anfeindungen.

Als am 23. Juni 63 der fast abgöttisch geliebte John F. Kennedy nach Berlin kam, durfte Brandt bei der Stadtrundfahrt im offenen Cabriolet  in der Mitte stehen, Adenauer wurde diese Gunst von den Amerikanern verwehrt. Unvergessen sind bis heute Kennedys Worte: „Ich bin ein Berliner“. Ganz Deutschland setzte riesige Hoffnungen in den jungen Präsidenten, der jedoch den Status Quo der Supermächte wegen Berlin nicht ändern wollte. Ich erinnere mich noch sehr gut an Willys Worte, dass irgendwann das Brandenburger Tor nicht mehr an der Grenze stehen würde. Obwohl keiner mehr daran glaubte, auch ich nicht, trat diese Hoffnung doch noch ein und es war ein Geschenk der Geschichte, dass Brandt es noch erleben durfte, wie seine Stadt, für die er mehr tat als jeder  andere, 1989 wieder vereint wurde.

Obwohl seine Beliebtheit rasch anstieg, reichte es zu seiner Verbitterung und meiner Enttäuschung im Bundeswahlkampf 1965 wieder nicht für ihn und die SPD. Es war dann für ihn (und für mich und viele Sozis) äußerst makaber, dass er 1967 ausgerechnet mit dem alten Nazi Kiesinger eine große Koalition als Vizekanzler eingehen musste. Die alte Regierung hatte abgewirtschaftet und es gab trotz Ludwig Erhard eine tiefe Rezension. Es war das erste Mal, dass die SPD den Karren aus dem Dreck zog und letztlich nicht belohnt wurde. Aber als bei den Wahlen 1969 die CDU und die FDP erheblich verloren (damals gab es nur drei Parteien), putschte Brandt noch in der Wahlnacht gegen Wehner und Helmut Schmid und vereinbarte um Mitternacht mit Walter Scheel (FDP) die Sozial-liberale Koalition. Die Koalitionsverhandlung zwischen den beiden dauerte Minuten, heute brauchen die Parteien drei Monate zur GroKo. „Das war Charisma, das war Führungskraft“, erinnerte sich Egon Bahr, ein guter Freund aus Berliner Tagen und sein langjähriger Berater.

Ich erwartete nach 20 Jahren konservativer Nachkriegspolitik eine klare Richtungsänderung, was dann kam war wesentlich mehr. „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ war jetzt das Motto. „Wir sind keine Auserwählten sondern gewählte“, waren neue Töne in der Bonner Republik. Er suchte das Gespräch mit den östlichen Nachbarn, am wichtigsten war ihm die Verständigung mit der UdSSR, die alles im Osten beherrschte. Eine Wiedervereinigung ohne Russen war reinste Utopie. Die CDU/CSU mit Barzel und Strauß schäumte und holte die alten Diffamierungen wieder raus, ergänzt mit seinen „Frauengeschichten“. Die westlichen Mächte ließen Brand jedoch gewähren und unterstützen ihn sogar, was mich nicht wunderte, denn eine entspannte Region in Mitteleuropa stabilisiert den Frieden. Seine Annäherung an den Osten, die „Politik der kleinen Schritte“, war riskant aber letztendlich der Grundstein für die Wiedervereinigung. Seine Ostpolitik schuf bei unseren Nachbarn das Vertrauen, auf dem alle nachfolgenden Regierungen aufbauen konnten. Wenn jemand behauptet Helmut Kohl sei der Wiedervereinigungskanzler, so ist das Geschichtfälschung. Kohl war gerade Kanzler auf Staatsbesuch in Polen als die Mauer fiel, mehr nicht. Sein Verdienst besteht darin, die 4+2 Verhandlungen mit den Siegermächten ordentlich geführt zu haben.

Es war trotzdem für alle Menschen, ob deutsch oder nicht, ein unglaublicher Vorgang, als Brandt in Warschau vor einem Denkmal an den 2. Weltkrieg spontan auf die Knie ging. Hier entschuldigte sich ein deutscher Kanzler für die Gräuel des Nationalsozialismus bei den Opfern. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, was viele Menschen rührte, erzeugte bei der Opposition Wutausbrüche. Überhaupt gab es gegen keinen führenden Politiker jemals so ein infames Treiben wie gegen Willy Brandt, andererseits hat niemals wieder ein Politiker einen dermaßen riesigen Zuspruch erlebt. Dass er 1971 den Friedensnobelpreis erhielt war überraschend, aber selten hat jemand diese Auszeichnung so verdient wie er. Bei der Bundestagswahl 1972, die er durch eine verlorene Vertrauensfrage gegen sich selbst erzwang (ein Trick, den Helmut Kohl später auch anwendete), stellte sich eine riesige Schar von Intellektuellen, Künstlern und Prominenten vor und hinter ihn. Damals erreichte er den höchsten Sieg der SPD mit unglaublichen 45,8%. Es war auch eine Bestätigung seiner Ostverträge. Ich bediente zu der Zeit in meiner Heimatstadt Regensburg neben meiner Lehre in einer Studentenkneipe (ich war immer Pleite) und war deshalb voll im Geschehen der 68er-Bewegung. Wie alle jungen Leute war ich politisch positioniert und für jede Diskussion bereit. Das Motto jener Zeit lautete: „Wer zweimal mit der Selben pennt, gehört schon zum Establishment“. Zumindest dieser Vorsatz hat sich wieder relativiert. Willy Brandt gab uns viel Hoffnung auf eine bessere Zukunft, weg von den alten Zöpfen 

Auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit und obwohl er seine Reformen noch nicht alle beendet hatte, stürzte ihn ein DDR-Spion. Ausgerechnet das Land, das durch die Ostpolitik am meisten profitiert hatte, war für seinen Rücktritt verantwortlich. Ich bin immer noch der Meinung, dass sein Rücktritt falsch war, denn der deutsche Geheimdienst hatte (wie man heute weiß) total versagt. Aber zum einen war er tief enttäuscht und hatte zuweilen Depressionen, zum anderen drängte ihn der alte Zuchtmeister der SPD, Herbert Wehner zum Rücktritt. „Der Herr badet gerne lau“, plapperte Wehner im Kreml, während Willy in Washington war. Das verzeih ich dem großen Redner und Kärrner der SPD heute noch nicht. Mit dem Rücktritt Brandts kam Helmut Schmid, den ich damals nicht über den Weg traute. Mittlerweile ist er zur letzten moralischen Instanz in diesem Universum geworden.

Einige Zeit hörte man nichts mehr von  Brandt. Er zog sich etwas zurück bis man ihn auf die internationale Bühne holte. Er war maßgebend für den Nord-Süd-Dialog zuständig. In Erinnerung bleibt auch, wie er im Jahre 1990 ca.194 Geißeln aus der Hand des wahnsinnigen Saddam Hussein nach Deutschland holte.

Als im Oktober 1978 Martin Auer, der langjährige SPD-Vorstand, Brandt spontan nach Schierling holte, sprach dieser auf den Kirchentreppen zu den Bürgern. Das offizielle Schierling freilich ignorierte den Ex-Kanzler und Nobelpreisträger. Wie mir zwei Augenzeugen unabhängig erzählten, fuhren jedoch „zufällig“ ununterbrochen Odelfässer vor dem Redner auf und ab. Ich kam 1972 nach Unterdeggenbach und weiß noch, wie mit „Sozis“ umgegangen wurde und heute hat man als „Roter“ immer noch einen schweren Stand.

Meine schönste Erinnerung bleibt, wie Willy Brand einen Tag nach dem Mauerfall in Berlin seinen Bürgern sagen konnte, „es wächst zusammen was zusammen gehört“. Er hatte die Grundlagen dafür geschaffen, dass nun Ost- und Westdeutsche gemeinsam in Frieden und Freiheit in einem geeinten Deutschland leben können. Er hat mich und viele meiner Generation für eine an den Menschen orientierte Politik mobilisiert, für soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Dafür danke ich ihm.