Erinnerung an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und das Leben von A. Sendtner
Zur Erinnerung an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 30 Jahren und an Annemarie Sendtner, die ein Leben lang die Zumutungen der ganz gewöhnlichen niederbayerischen Borniertheit ertrug und ihnen keinen Millimeter nachgab.
Von Florian Sendtner
Vielleicht hat es meine Mutter gar nicht wirklich gegeben. Das wird mir jetzt, drei Wochen nach ihrem Tod, so nach und nach bewusst. Gut, man könnte einwenden: Ein paar Tausend Leute haben sie gekannt. Als Apothekerin von Schierling, einem etwas zu groß geratenen Dorf irgendwo in Bayern. Die nun mit 88 gestorben ist, nachdem sie ihr Leben lang brav ihre Pflicht erfüllt hat, aus, Amen. Ja, diese Frau hat es schon gegeben, das erlauben sie netterweise. Aber die Frau, an die ich mich zu erinnern glaube, die mir sogar sehr lebhaft vor Augen steht (und deren ewig junge Stimme ich noch mit 90 im Ohr haben werde), die scheint es nicht gegeben zu haben. Da muss ich mich irgendwie getäuscht haben.
Es geht damit los, dass diese Frau eine Meinung hatte. Ich sage gar nicht: eine spezielle Meinung, sondern: überhaupt eine. Man hat als Frau in Schierling keine Meinung. Außer sie deckt sich mit der herrschenden. Das stellt sich heraus, als ich den Nachruf auf meine Mutter in der „Laberzeitung“ lese. Die „Laberzeitung“ ist die Lokalausgabe des „Straubinger Tagblatts“, benannt nach dem Flüsschen, das durch Schierling fließt, der Großen Laber. Der naheliegende Kalauer von wegen „labern“ ist sogar etymologisch begründet: altirisch „labar“ bedeutet „beredt“, und wenn man dann noch auf keltisch „labara“ = „schwatzend, rauschend“ zurückgeht, hat man die gemeinsame Bedeutung. Der Nachruf auf meine Mutter in der „Laberzeitung“ ist allerdings nicht sehr beredt oder rauschend, er ist eher kurzangebunden und liest sich irgendwie abgehackt und abgeschnitten. Na ja, es fehlt ja auch die Hälfte. Ich weiß das, ich hab ihn schließlich geschrieben.
Das hier zum Beispiel fehlt: „Ein einschneidendes Erlebnis war für sie die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Ende April 1986, die sie politisch umdenken ließ. Der Atomausstieg der Merkel-Regierung 2011 kam ihrer Meinung nach 25 Jahre zu spät.“ Eine Frau, die schon vor 30 Jahren gegen Atomkraft war? Sie haben sie damals schon belächelt für diese Spinnerei, natürlich wird das auch anlässlich ihres Todes sauber untern Tisch gekehrt. Man muss dazu wissen: Meine Eltern waren damals, 1986, die einzigen im Umkreis von 30 Kilometern, die einen Geigerzähler hatten. Was sich schnell herumsprach. Die Leute kamen scharenweise in die Apotheke, brachten Salat und Tomaten aus dem Garten mit und wollten wissen, ob die guten Sachen genießbar waren oder nicht. Der Staat war ja keine so große Hilfe. Da war nur der Innenminister Zimmermann, der aus dem Fernseher heraus beteuerte, dass „zu keiner Zeit keinerlei Gefahr“ bestehe. Der Geigerzähler sagte was anderes, der kriegte sich oft gar nicht mehr ein.
Die Apotheke meiner Eltern verwandelte sich im Frühsommer 1986 in eine halbamtliche Ersatzprüfstelle für radioaktive Messungen, und meine Mutter wusste nicht, worüber sie mehr verzweifeln sollte: über die Katastrophe selbst, über die völlig unvorbereiteten, beschwichtigenden Behörden, oder über die naive Bevölkerung. Die wenigsten waren schließlich schon mal in einer Physikvorlesung gesessen. Die fragten ernsthaft: „Kann man die verstrahlte Milch trinken, wenn man sie vorher abkocht?“
Waren die Leute meinen Eltern nicht dankbar für die kostenlose Strahlenberatung in Tschernobyl-Zeiten? Doch, sehr. Nur bei der nächsten Gelegenheit wählten sie wieder tapfer CSU. Und meine Mutter verzweifelte noch mehr. Die Schierlinger Kolping-Familie brachte es fertig, in den Tagen nach Tschernobyl eine „Informationsfahrt“ zum Atomkraftwerk Ohu bei Landshut anzubieten (Luftlinie 25 Kilometer, oft sieht man von Schierling aus die Rauchsäule des Kühlturms von Ohu). Ich fuhr eiskalt mit. Feindaufklärung. Da wurde bei Gratisgetränken ein Propagandafilmchen vorgeführt, in dem Carolin Reiber als Hausfrauendummchen den schlauen Professor im weißen Kittel fragt, ob diese unsichtbaren Atome auch wirklich nicht gefährlich sind. Und, Überraschung! – der Professor kann sie beruhigen: Nein, nein, da können Sie ganz unbesorgt sein! – Die Schierlinger Kolping-Familie war‘s damit zufrieden. Und meine Mutter verzweifelte noch mehr.
Es muss dieses dreckige Desinformationsfilmchen gewesen sein, für das Carolin Reiber 1987 den Publikums-Bambi erhielt, 1990 den Sonder-Bambi, 1998 den Bayerischen Verdienstorden und 2006 ungelogen die Bayerische Staatsmedaille für Verdienste um Umwelt und Gesundheit. Meine Mutter dagegen wurde von den Maßgeblichen in Schierling seit Tschernobyl endgültig geschnitten. Sie existierte praktisch nicht. Beim Thema Atomkraft galt das ganz besonders, was auch in Bezug auf ihr gesamtes Leben durchgehend galt: Immer waren da andere, die den breiteren Arsch, die größere Klappe und vor allem die richtigere Meinung hatten. Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, dass sie anlässlich ihres Todes zur Kenntnis genommen, geschweige denn gewürdigt werden sollte!
Das klingt jetzt vielleicht verbittert, aber das war meine Mutter nie. Sie flüchtete sich in Satire und Sarkasmus, entdeckte Dieter Hildebrandt, Gerhard Polt und die Biermöslblosn. Deren Erwähnung ließ die „Laberzeitung“ immerhin durchgehen. Doch schon der nächste Satz war wieder zu viel: „Für die Mächtigen hatte sie nur Spott und Verachtung übrig. Ihr Herz schlug für die Ohnmächtigen und Kreativen.“ Aber das hätte ich natürlich wissen können, dass solche Sätze laut Redaktionsstatut untersagt sind.
Dass meine Mutter, 1927 in München geboren, ihre gesamte Schulzeit, von ihrem sechsten bis zu ihrem 18. Lebensjahr, unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verbrachte, das war wieder erlaubt. Das nachfolgende kleine Beispiel dagegen nicht: „So wurde sie zum Beispiel als Mädchen von einem Lehrer gezwungen, den Schulgang auf- und abzumarschieren und dabei den Hitler-Gruß auszuführen, den sie zuvor nicht vorschriftsmäßig ausgeführt hatte.“ Dass sie den Jesuiten Alfred Delp ganz gut kannte, der 1945 hingerichtet wurde, und dass das Entsetzen über diesen Justizmord sie nie losließ, das ging grad noch durch. Dass das für sie Konsequenzen hatte, nicht: „Ihre Fassungslosigkeit und ihr Abscheu gegenüber den Neonazis wie dem Nationalsozialistischen Untergrund kannten keine Grenzen.“
Eine Frau, die ernsthaft was gegen Neonazis gehabt hat? Wie komisch. Schon fast peinlich! Sowas hat doch in der Zeitung nichts zu suchen! Wenn sie im Obst- und Gartenbauverein oder in der Frauenunion stellvertretende Kassiererin gewesen wär, das wär erwähnenswert gewesen! Aber doch nicht so ein Schmarrn!
Ganz zu schweigen von meinem Schlusssatz. Zumindest verschwieg ihn die „Laberzeitung“: „Am Tag ihres Todes machte Europa die Balkanroute dicht und verwehrte den Flüchtlingen die Einreise. Was die meisten Politiker als großen Erfolg feierten, hätte Annemarie Sendtner als Schande für Europa betrachtet.“